Laudatio am 10.02.95 im Pflegeheim Schwemlingen

Früher war es üblich, wenn ein Künstler seine neuesten Werke ausstellte, dann kamen seine Kollegen und Freunde und halfen, die Ausstellung einzurichten. Die allerletzte Tätigkeit bestand darin, einen Firnis auf die Bilder aufzutragen, um sie vor Fingerabdrücken der Besucher zu schützen. Für das Auftragen des Firnis ist die französische Bezeichnung „Vernissage“ in unseren Sprachgebrauch eingegangen. Während man noch letzte Hand anlegte, kamen auch schon die ersten Gäste. Einer der Freunde des Künstlers hatte dann den ehrenvollen Auftrag, über die Ausstellung zu sprechen und den Künstler vorzustellen.

Nun, der Künstler dieser Ausstellung gibt hier gewissermaßen ein Heimspiel. Er ist in Hilbringen geboren, hat lange in Schwemlingen gelebt und wohnt jetzt in Harlingen.

Manchmal haben wir ein gewisses Unbehagen, wenn von Künstlern die Rede ist. Wie war das noch mit den Vorurteilen von der „brotlosen Kunst“? Von diesen Individualisten - oder sollten wir schon sagen: Chaoten? - am Rande oder außerhalb der gutbürgerlichen Existenz? Menschen, die sich die Freiheit nehmen, so zu leben, wie es ihnen beliebt, allen überkommenen Konventionen zum Trotz?

Ich denke dabei an ein Lied von Reinhard Mey „Musikanten sind vor dem Tor“. Ersetzen Sie die Musikan­ten durch Künstler allgemein. Es paßt auf alle. Wer Lieder singt, steckt auch die Herberge in Brand. Die letzte Stro­phe gipfelt in einer Art Gebet zum Schutzpatron der Stadt: „Schütz uns vor Feuersbrunst und Epidemien und vor Musi­kanten, die auf Reisen sind - oder laß mich mit ihnen ziehen.“

Unterschwellig klingt zwischen allen Vorurteilen doch die unausgesprochene Sehnsucht nach der gleichen Freiheit, wie sie die Künstler haben.

Was ist nun Kunst? Versuchen wir, einen Zugang zum Be­griff „Kunst“ zu finden. Wir sind nicht nur von Bildern um­geben, wir tragen sie auch seit jeher in uns. Von außen strömen unentwegt Bilder auf uns ein. Die Augen sind für uns, da die anderen Sinne abgestumpft sind, das wesent­liche Eingangstor für Welterfahrung. „In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis“. (Johann Georg Hamann)

So, wie unsere Augen als Fenster zur Welt gelten können, so ist der Spiegel das Sinnbild unserer Fähigkeiten, uns der Bilder bewußt zu werden, sie zu deuten und sie dank unse­res Gedächtnisses vor das innere Auge rufen zu können. So wird die Brücke geschlagen von der Außen- zur Innen­welt. Sehnsucht und Phantasie werden zu Erlebnis und Er­fahrung.

Die Pädagogik hat lange gebraucht, bis sie die abstrakte Wissensvermittlung wieder durch „Anschauungsunterricht“ ergänzte. Bereits Kant hatte in seiner „Kritik der Urteilskraft“ vermerkt: „Begriffe ohne Anschauung sind leer.“

Als die ersten Bilder und Skulpturen geschaffen wurden, hat niemand nach ihrem Kunstwert gefragt. Sie waren wortlose Verständigung innerhalb einer Gemeinschaft. Auch im Dienst des Magischen und später des Religiösen waren sie von Anbeginn - und blieben es bis in die jüngste Zeit - Dinge lebendigen Anschauens. Ihre Zweckbestim­mung und die Deutbarkeit ihrer Inhalte haben zu keiner Zeit den (bewußt oder unbewußt angestrebten) Kunstwert ausgeschlossen oder auch nur gemindert.

Noch ehe wir vom Kunstwerk sprechen, sei an die unter­weisende und belehrende Wirkung der geschaffenen Bil­der erinnert. Im Mittelalter waren die Altargemälde, Dar­stellungen aus der Heiligenlegende und die Skulpturen in den Kathedralen die „Biblia pauperum“, die Bibel der Ar­men für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die zwar zu denken, aber noch nicht zu lesen verstanden. (In unsere Zeit scheint es eher umgekehrt zu sein!)

Künstlerisches Tun ist eine Gratwanderung. Auf der einen Seite droht das Abgleiten ins Nur-Gefällige. Ohne uns hochmütig über diese Freude am leicht Eingängigen er­heben zu wollen: die Probleme des Künstlerischen begin­nen erst jenseits des naiven Augenschmauses. (Auch der Begriff „Kitsch“ hängt mit der Frage der Angemessenheit zusammen.)

Die ungleich größere Gefahr ist der Absturz von dem eben erwähnten Grat nach dieser progressivistischen Richtung: in die menschenverach­tenden, vielleicht genialischen aber niederdrückenden und zerstörenden Machweisen. Ob aus erkrankten oder geschwächten Sinnen oder ledig­lich aus der Spekulation entsprungen (Mischformen aus all diesen An­trieben sind häufig), dieser Miserabilismus in sei­ner derzeitigen Wu­cherung ist mehr als nur bedenklich. Zynismus und Manie in der Bild­kunst erfreuen sich heute der Gunst und Förderung von Schlüsselperso­nen der Mas­senbeeinflussung.

Bildwerke ohne Echo beim Betrachter, Kunst ohne berei­chernde Wirkung, verdienen diese Bezeichnung nicht.

Die überzeugendste Begriffsbestimmung für den Künstlerberuf scheint diese zu sein: „Künstler darf sich nennen, wem es dank seiner Begabung und Ausbildung gelingt, ein geistig-seelisches Erlebnis in eine gestaltete und damit sinnenhaft erfaßbare Form zu bringen, in der Malerei in eine sicht­bare, in der Bildhauerkunst in eine sicht- und tastbare.“

In der Kunst, die wir verbindlich und verantwortungsbe­wußt nennen, besteht zwischen dem Erleben des Künstlers einerseits und den Empfindungen des Betrachters (Lesers, Hörers) andererseits eine ausreichende Übereinstimmung. Bei aller - im Musischen ganz natürlichen - persönlichen Zu- oder Abneigung im einzelnen darf die Subjektivität nicht so weit gehen, daß eine Verständigung zwischen Künstler und Kunstfreund nicht mehr möglich ist.

Das ist kein unbilliges Verlangen, vielmehr eine selbstver­ständliche Erwartung, wenn Kultur mehr sein will als ein auf sich selbst bezogenes Treiben in geschlossenen Kreisen.

Oft genug gewinnen wir den Eindruck, daß Kunst immer exklusiver und für einen größeren Teil der Menschen immer unverständlicher wird.

Viele Künstler - und ich frage mich, ob das wirklich Künstler sind - sagen auch geradezu: ‘Ich schaffe, und ich verstehe mich, wenn mich aber jemand nicht versteht, hat er eben Pech gehabt.’

Es gibt nichts Gewöhnlicheres, als daß man von scheinba­ren Kunstwerken hört, sie seien sehr gut, aber es sei sehr schwer, sie zu verstehen. Wir sind an eine solche Behaup­tung gewöhnt, indessen: zu sagen, daß ein Kunstwerk gut aber unverständlich sei, ist ebenso, als ob man von einer Speise sagte, sie sei sehr gut, aber die Menschen könnten sie nicht essen.“

Nun wird hin und wieder im Zusammenhang mit Kunstwer­ken nach dem Stil oder der Stilrichtung gefragt. Dieses Thema sollten wir nicht überbewerten, besonders dann nicht, wenn es sich um einen zeitgenössischen Künstler handelt.

Stil, das ist einfach nur das Etikett, unter dem das Gemein­same in der Kunst einer Epoche zusammengefaßt wird. Si­cher, wir kennen romanische und gotische Kathedralen, Barockschlösser, Renaissancevillen, Jugendstil-Ornamente usw. Aber wie ist es in einer Übergangszeit, in der Zeit des Umbruchs? Wo ordnen wir da die einzelnen Künstler ein? Kunsthistoriker späterer Epochen werden es mit unserem Jahrhundert schwer haben. Wo ist denn noch das „Gemeinsame einer Epoche“?

Wie entsteht nun eine neue Stilrichtung? Welches sind die wahren Antriebe, die hinter dem Modernismus stehen? Da werden nicht die Regungen des Weltgeistes belauscht, da wird salopp gefragt: „Wem können wir so etwas andre­hen?“ und „Was bringt es uns?“ Und damit wird oft von Kunsthändlern eine Stilwende eingeläutet, die später von Kunsthistorikern registriert und ernsthaft interpretiert wird.

Zeitstil ist nicht länger etwas, das zwangsläufig aus dem Empfinden der Epoche entspringt und es spiegelt, sondern nur noch das, was Macher, Händler und Meinungsmani­pulanten zur „aktuellen Kunst“ erklären - bis zur nächsten Parolenausgabe.

Erinnert das nicht an etwas? Wie brandaktuell ist doch noch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern!

Können wir es wirklich einigen Snobs überlassen zu be­stimmen, was uns gefällt oder zu gefallen hat? Gefallen oder nicht gefallen, das ist das einzige Kriterium, nach dem man ein Kunstwerk auswählen sollte.

Nun, wenn wir uns in einer Ausstellung umsehen, stoßen wir auf ein paar Fragen: Woher nimmt der Künstler seine An­regungen oder Motive? Welche Bedeu­tung haben die Farben für ihn? Wie entsteht ein Bild? Und schließlich - was ist darauf zu sehen?

Ich möchte versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu finden.

Die Anregungen sind vielfältig. Da ist der Mensch mit al­len Höhen und Tie­fen seines Lebens, mit Freude und Trauer, Glück und Unglück, eine schier unerschöpfliche Quelle, wenn man noch das rechte Gespür für seinen Mitmenschen hat.

Da ist die Natur als schützenswertes Gut. Ich möchte be­wußt den Begriff "Umwelt" vermeiden, denn Umweltschutz ist ja doch viel älter als das Mode­wort dafür. Aber gehen Sie mit offenen Augen durch einen Wald und lassen Sie sich von der Fülle der Motive berauschen.

Nun sieht Albert Kettenhofen aber hier nicht nur den Wald, denn er malt ja nicht in erster Linie die Bäume, sondern die Stimmung im Wald.

Er will nicht das Motiv malen. Das Motiv gibt ihm nur die Anleitung. Er malt lediglich das, was ihm in diesem Motiv gefällt. Albert Kettenhofen malt also nicht, was er sieht, sondern was er empfindet. Er zeigt uns die Welt durch seine Brille.

In der Studienzeit damals stand das Figürliche im Vor­dergrund. Dann kam allmählich die Abstraktion dazu. Das war so 1949/50 durch den Einfluß von Frankreich auf die Saarbrücker Kunstschule.

Nachher wurde ihm immer mehr bewußt, daß vieles, was ihn von außen her beeinflußt und beeindruckt, in ab­strakter und gegen­standsloser Technik besser auszudrücken sei.

Was heißt nun "abstrakt"? Picasso sagt: "Es gibt keine ab­strakte Kunst. Man muß immer mit etwas beginnen. Nachher kann man alle Spuren des Wirklichen entfernen."

Abstrakt, vom Lateinischen. "abstrahere" bedeutet "wegnehmen", nämlich das wegnehmen, was nicht unbedingt zur Aussage des Bildes gehört, den Kern herausschälen, auf das Wesentliche zurückführen.

Hier gibt die Kunst nicht einfach nur Gesehenes wieder, vergleichbar mit der Fotografie, sondern sie macht sichtbar, wie Paul Klee sagt.

Die Fotografie einer Landschaft bedarf keiner Erklärung. Höchstens der Bemerkung, wo das Bild aufgenommen wurde. Und dann ist es eben die Saarschleife und nichts anderes.

Die abstrahierte oder die abstrakte Malerei läßt mehrere Deutungen zu, sehr individuelle Deutungen des Betrachters. Das liegt in ihrem Wesen.

Eine weitere Frage drängt sich auf, nämlich: „Muß die Kunst nun bitterernst sein?“ - Woher kommt es denn, daß bei unseren Zeitgenossen die Bilder von Carl Spitzweg so beliebt sind? Er schildert nicht nur die gutbürgerliche Biedermeier-Idylle. Aus fast jedem seiner Bilder blinzelt ein Schalk. Die Kunst hat durchaus das Recht, fröhlich zu sein. Sie vergibt sich nichts, wenn sie eine gewisse Heiterkeit ausstrahlt.

Deshalb finden wir in dieser Ausstellung auch einen besonderen Farbklecks: nämlich eine Gruppe von skizzenhaft angelegten Ölbildern. Wir sehen einen Clown, der einen Hund durch einen Reifen springen läßt, wir sehen eine Gruppe beim Musizieren, wir sehen die Krankenschwestern, die letztes Jahr in diesem Haus ihr Examen bestanden haben. Die Gesichter sind immer nur angedeutet. Das bedeutet, Sie werden als Betrachter nicht festgelegt, was oder wen Sie auf den Bildern sehen.

Wir finden hier nicht nur Malerei. Einige Arbeiten sind mit einer anderen Technik gestaltet, nämlich „Collagen“. Übersetzen wir dieses Wort doch einfach mit „zusammengeklebten Bildern“. Unter dem Etikett „Collagen“ hat es schon sehr viel gegeben: Zeitungsausschnitte zusammengeklebt und mit dem Pinsel noch etwas bearbeitet, fertig. Albert Kettenhofen hat es sich nicht so einfach gemacht. Im Gegenteil. Er ließ sich von der Struktur seines Materials inspirieren und leiten. Und dann hat er die so entstandene Fläche mit Farben betont und - wo erforderlich - mit einem leichten Goldauftrag hervorgehoben.

Um das Bild des Künstlers und seiner Schaffensweise abzu­runden, haben wir hier auch noch einige Landschaftsbilder, Motive aus Venedig, Sorrent und Capri. Wecken diese Namen nicht die Erinnerungen an die sehnsüchtigen Fernreiseträume der 50er Jahre? Der "Frühling in Sorrent" oder die "Capri-Fischer"? Ich glaube Rudi Schurike hat uns damals diese Nostalgie ins Ohr gesetzt.

Sie sehen, diese Bilder sind mit der gleichen Farbpalette gestaltet wie die anderen, sie klingen an die neuen Arbeiten an. Ich glaube, Albert Kettenhofen hat die Heiterkeit der südlichen Sonne auf sein Gemüt wirken lassen und teilt uns diese Stimmung fröhlicher Unbeschwertheit, den Optimismus, die Hoffnung auch in seinen anderen Arbeiten mit. Ich würde mich freuen, wenn Sie das genau so empfinden und erleben könnten wie ich.

Bei den Farben in den Arbeiten von Albert Kettenhofen dominieren die hellen, erdfarbenen Töne, vor allem als Hintergrund. Das ist Freude, positives Denken, Optimismus, Zuversicht. Das ist das Licht, das immer wieder kommen muß. Wir sehen hier gleichsam die Freude, die der Künstler an seinem Schaffen erlebt. Diese Freude will er an uns weitergeben, sie mit uns teilen.

Schaffensfreude, Optimismus, Hoffnung, Zuversicht, positives Denken, Heiterkeit, Gelassenheit, auch ein Freisein von physischen oder psychischen Zwängen. Sind das nicht alles schwerwiegende Gründe für künstlerisches Gestalten.

Dazu kommen nun auch stärkere Farben. Es sind rot, blau, gelb, grün und violett als Hauptfarben. Schwarz ist die Untermalung, damit die Farben verhaltener, aber doch intensiver wirken. Schwarz ist das Gerüst. Es ist aber keine Trauerstimmung, es ist ein Zustand, eben eine Farbe im Bild, eine Gestaltung. Gut, streng genommen sind Schwarz und Weiß keine Farben. Mit den Grautönen, die dazwischen liegen, zählen sie zu den unbunten Farben.

Bei Rot etwa entsteht ein ganz anderes Licht und nicht die Stimmung der Verlassenheit.

Blau wiederum ist Sehnsucht, Weite, auch Hoffnung. Blau wie die Weite des Meeres, des Himmels. Blau wie die Werbung von Fernreise-Unternehmen und die Fahrt ins Blaue.

Die Bilder dieser Ausstellung sind ohne Titel. Sie enthalten Eindrücke und Erlebnisse, die man nicht in Worte kleiden kann oder möchte. Sie als Betrachter sollen dadurch die Möglichkeit behalten, sich die Bilder selbst zu interpretieren.

Es ist heikel, einen Kommentar zu den Bildern geben zu wollen, denn "In der Kunst schweigt der Mensch und das Bild spricht", sagt Boris Pasternak. Picasso ist etwas deutlicher: "Menschen, die Bilder erklären wollen, bellen für gewöhnlich den falschen Baum an."

Lassen Sie sich beim Betrachten der Arbeiten von Albert Kettenhofen von Georges Braque leiten, der gesagt hat: "In der Kunst zählt nur eines: das, was man nicht erklären kann. Man muß sich mit dem Entdecken begnügen und auf das Erklären verzichten."